ZUZUHÖREN GERUFEN

Nimba-Berge,
Seringbara-Region, Guinea

Nicolas Buzzi, Komposition/Produktion, Zürich/Frankfurt
Kathelijne Koops,
Primatologin/evolutionäre Anthropologin, Universität Zürich

An der Grenze zwischen Guinea, Liberia und der Elfenbeinküste erheben sich grün und sanft die Nimba-Berge. Ihre Hänge sind mit dichten Wäldern und satten Wiesen überwachsen. Die Gegend ist üppig und wasserreich – Nimba ist eines der artenreichsten Gebiete in Westafrika.

Seit zwei Jahrzehnten erforscht die Primatologin und evolutionäre Anthropologin Kathelijne Koops hier das Verhalten wilder Schimpansen (Pan troglodytes verus). Ihr Forschungsteam setzt auf eine Vielzahl innovativer Methoden – unter anderem Kamerafallen – um zu untersuchen, wie und weshalb Menschenaffen ihre kulturellen Fertigkeiten entwickeln.

Ihre Forschung wirft grundlegende Fragen auf: Wie sind wir Menschen zu den Kulturwesen geworden, die wir heute sind? Was verbindet unsere Kultur mit den Kulturen anderer Menschenaffen? In was für einem Verhältnis stehen Natur und Kultur zueinander? Und was unterscheidet letztlich den Menschen von nichtmenschlichen Tieren?

Nicolas Buzzi (Komposition und Produktion) greift diese Fragen auf und führt sie mit künstlerischen Mitteln weiter. Die Musikinstallation Zuzuhören gerufen ist auf der Grundlage der Daten entstanden, die Kathelijne Koops’ Kamerafallen über die Jahre in Nimba aufgenommen haben. Sie vermittelt ihren Besucher:innen eine symmetrische Perspektive, die Menschen, nichtmenschliche Tiere und ihre Umwelt als Einheit begreift, kulturelle Vielfalt und Ausdrucksweisen artübergreifend ernst nimmt, Wechselwirkungen zwischen Ökologie und Kultur in den Blick fasst und auf diese Weise zentrale Anliegen des Natur- und Artenschutzes vermittelt.

Schimpansen trommeln in Nimba (2022).

DEN RUFEN ZUHÖREN
Schimpansen leben in sogenannten Fission-Fusion-Gesellschaften. Das heisst, sie leben in grösseren Gemeinschaften von ungefähr Fünfzig Tieren, die sich aber immer wieder aufteilen (fission) oder sich mit anderen Schimpansengruppen zusammenschliessen (fusion). Tagsüber suchen die Schimpansen alleine oder in kleinen Untergruppen nach Nahrung. Um sich im dichten Wald miteinander zu verständigen, trommeln sie auf Bäume und rufen.

Diese Sounds sind wichtig für Kathelijne Koops Forschung. Immer, wenn sie und ihr Team in Nimba den Schimpansen nachspüren, hören sie sehr genau auf die Geräusche des Waldes. Die Gegend ist steil und viele Gebiete, durch die sich die Schimpansen mühelos bewegen, sind für Menschen kaum oder gar nicht zugänglich. Indem sie dem Rufen und Trommeln der Schimpansen zuhört, findet Kathelijne heraus, wo sie sich befinden. Tatsächlich sehen kann sie sie selten, denn die Schimpansen sind scheu und meiden Menschen.

Weil die Schimpansen Menschen gegenüber misstrauisch sind, nutzt Kathelijne Koops indirekte Verhaltensbelege wie zurückgelassene Werkzeuge sowie Kamerafallen, um ihre Verhaltensweisen zu beobachten und zu untersuchen. So kann sie die grosse kulturelle Vielfalt der Schimpansengemeinschaften von Nimba dokumentieren. Wie wir Menschen haben nämlich auch Schimpansen Kulturen, die sich von Gemeinschaft zu Gemeinschaft unterscheiden (→Koops, 2020) und die sie über Generationen weitergeben (→Koops et al., 2022).

Im Lauf der Jahre haben diese Kamerafallen immer wieder Schimpansen dokumentiert, die mit Händen und Füssen auf Baumstümpfe trommeln (→Fitzgerald, Koops et al., 2022). Vermutlich kommunizieren die Schimpansen auf diese Weise über weite Distanzen miteinander. Es gibt sogar Hinweise darauf, dass sie beim Trommeln eigene Stile und Rhythmen entwickeln (→Eleuteri, Hobaiter et al., 2022). Auf diese akustischen Artefakte konzentriert sich Nicolas Buzzis Installation Zuzuhören gerufen.

Nicolas Buzzi bei der Aufnahme (2023).

EINE TRANSDISZIPLINÄRE INSTALLATION
In einem abgedunkelten Raum werden Videofragmente, auf denen sich dieses Trommeln und Rufen zeigt, auf eine frei hängende Leinwand projiziert. Die Originaltonspur allerdings wird ersetzt durch eine transkribierte und elektroakustisch instrumentierte Version der durch die Rufe und das Trommeln entstehenden Figuren und Muster.

Diese aber bleiben nicht unberührt; aus den teils wilden Vermengungen von Geschrei und Trommeleinlagen, begleitet von aus der Umgebung abgeleiteten Texturen, wird ein menschlich quantisiertes musikalisches Gebilde, das sich verselbständigt und gelöst von den Schimpansen weiterentwickelt. Durch diese Vorgänge werden die akustischen Artefakte der Tiere übersetzt und vermenschlicht, wobei das Rufen und Trommeln und das Warten auf Antworten als kommunikative Akte hervorgehoben werden. 

Neben dem Trommeln und Rufen werden weitere Szenen gezeigt, die Kathelijne Koops’ Kamerafallen aufgenommen haben: Schimpansen bei der Nahrungssuche, beim Essen oder bei der Körperpflege. Auch andere Spezies tauchen auf, oder schlicht der Wald, ihr Lebensraum. Teils transformierte Resynthesen der Tonspur dieser Aufnahmen, die Umgebungsgeräusche wie rauschende Bäume und die Rufe anderer Spezies darstellen, begleiten, ergänzen und vervollständigen die Musik. 

Nachdem ein Bild des Waldes und ein Verständnis der musikalischen Form vermittelt sind, verändert sich die Projektion, beginnt punktuell zu verblassen. Mit der so symbolisierten Verdrängung von Lebensarten durch menschliches Handeln transformiert sich auch die Musik, dünnt aus. Immer mehr Frequenzbänder bleiben aus, nach und nach wird Register um Register herausgefiltert – bis sich die Projektion in Regen auflöst und nichts mehr erklingt.

EIN RAUM FÜR REFLEXION
Mit seinem künstlerischen Charakter eröffnet Zuzuhören gerufen einen unmittelbaren Zugang zum wissenschaftlichen Natur- und Artenschutz. Mit dieser teils intuitiven Annäherung bricht die Installation dichotome Denkmuster und Kategorien auf. Sie bringt ihre Besucher:innen dazu, scheinbar grundlegende Gegensätze – Natur versus Kultur, Mensch versus Tier, naturwissenschaftliches versus künstlerisches Wissen – zu hinterfragen und so eine systemische Perspektive zu entwickeln, ohne die es keinen effektiven Naturschutz geben kann.

Auf diese Weise soll Zuzuhören gerufen zum einen Perspektiven auf menschliche und nichtmenschliche Kulturen erweitern und befragen. Wenn auch andere Menschenaffen komplexe kulturelle Ausdrucksformen entwickeln – was macht uns dann menschlich?

Zum anderen schafft die Installation ein Bewusstsein für das Verschwinden von Lebensräumen im Anthropozän. Durch Palmöl- und Kaffeeplantagen, durch Abholzung und den Abbau von Bodenschätzen gehen immer grössere Flächen des natürlichen Habitats von Schimpansen verloren. Auch in den Nimba-Bergen sind sie bedroht. Obwohl die Region wegen ihrer hohen Biodiversität Anfang der 1980er-Jahre zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt wurde, ist sie durch Bergbau, Wilderei und Entwaldung bedroht. Seit 1992 steht sie auf der →Roten Liste des gefährdeten Welterbes.

Das ist die dringliche Botschaft hinter Zuzuhören gerufen: Wir müssen jetzt handeln, um die Schimpansengemeinschaften von Nimba zu schützen und ihre kulturelle Vielfalt in freier Wildbahn zu erhalten (→Kühl et al., 2019; →Koops, 2020; →White, 2021).

Nicolas Buzzi, 1987 in Bern geboren ist kunstschaffende Person in Performance and Sound art und lebt und arbeitet in Zürich und Frankfurt. Buzzis Praxis setzt den Fokus auf Wahrnehmung, Umgebung und kulturelle Grössen, um Perspektiven auf gesellschaftlich relevante Themen zu befragen. Dabei bewegt sich Buzzi in diversen Bereichen der Musik, im Film, in den Bildenden und den darstellenden Künsten, arbeitet zumeist orts- und situationsabhängig, oft kollaborativ, und integriert Instrumentenbau und Vermittlung. Buzzi leitet das Elektronische Studio der Hochschule für Musik und Darstellende Künste Frankfurt. Buzzis Arbeiten werden bzw. wurden auf der Architekturbiennale in Venedig, im HKW Berlin, im Istituto Svizzero Milano, im NUP Tallinn, im Kunstmuseum Basel, im NAC Litauen, auf der Architekturbiennale in São Paulo, im Schauspielhaus Zürich, am Musikfestival Bern, im Taylor Macklin Zürich, im Theater Basel und im ZKM Karlsruhe gezeigt.

Die evolutionäre Anthropologin und Primatologin Prof. Kathelijne Koops ist seit zwei Jahrzehnten als co-Direktorin des Nimba Chimpanzee Project in den Nimba-Bergen, Guinea (Westafrika) tätig, wo sie das Verhalten und die materielle Kultur von Schimpansen untersucht. 2011 hat sie in Cambridge dissertiert und lehrt seit 2014 in Zürich. Seit 2021 ist sie SNF-Eccellenza-Professorin am Anthropologischen Institut der Universität Zürich und Leiterin der Ape Behaviour and Ecology (APE) Group. Zurzeit leitet sie das vom SNF finanzierte Projekt Comparative Human and Ape Technology (CHAT), das den Einfluss ökologischer, sozialer und kognitiver Faktoren auf die Entwicklung und Evolution der Werkzeugnutzung bei Schimpansen, Gorillas, Bonobos und Menschen untersucht. Mit ihrer Forschung hofft sie Prozesse zu identifizieren, die den Technologiegebrauch bei den verschiedenen Menschenaffen-Arten vorantreiben, und so die Frage zu beantworten: Was macht uns menschlich?